Völkerstrafrecht: Ehemaliger Innenminister von Gambia wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt
Bern, 18.04.2023 - Die Bundesanwaltschaft (BA) hat am 17.04.2023 nach einer über sechsjährigen Strafuntersuchung beim Bundesstrafgericht (BStGer) Anklage gegen den von 2006 bis 2016 amtierenden Innenminister der Republik Gambia, Ousman SONKO, eingereicht. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, in seinen jeweiligen Amtsfunktionen systematische und ausgedehnte Angriffe während der gewaltsamen Repressionen durch die Streitkräfte des gambischen Präsidenten Yahya JAMMEH unterstützt, daran teilgenommen und sich nicht gegen diese gestellt zu haben. Die Tatvorwürfe beziehen sich auf eine Zeitperiode von 2000 bis 2016 und sollen insbesondere den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne von Art. 264a des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) erfüllen.
Die nun beim Bundesstrafgericht eingereichte Anklage hat folgenden Sachverhalt zum Gegenstand:
Im Juli 1994 wurde der erste Präsident der Republik Gambia, seit deren Unabhängigkeit im Jahr 1970, Dawda JAWARA, von einem Leutnant der gambischen Armee, Yahya JAMMEH, gestürzt. Nach einer Übergangszeit wurde JAMMEH im September 1996 zum Präsidenten gewählt. Die darauffolgende zwanzigjährige autoritäre Herrschaft war geprägt von Repressionen gegen jegliche Opposition.
SONKO, Unterstützer der Politik von JAMMEH
Ousman SONKO (1969) trat 1988 der gambischen Armee bei und wurde 2003 zum Kommandanten der Nationalgarde ernannt. In dieser Funktion war er für die Sicherheit von Präsident JAMMEH verantwortlich. 2005 wurde SONKO zum Generalinspektor der gambischen Polizei befördert, bevor er ab 2006 zum Innenminister ernannt wurde. Im September 2016, kurz vor Ende der Präsidentschaft von JAMMEH, wurde SONKO des Amtes enthoben, woraufhin er Gambia verliess und in Europa Asyl beantragte.
Die BA wirft Ousman SONKO vor, die von Präsident JAMMEH eingeführte repressive Politik unterstützt und sich daran beteiligt zu haben. Die Repression, welche sich insbesondere gegen politische Oppositionelle, Journalisten oder als Putschisten verdächtigte Personen richtete, sei insbesondere durch den systematischen Einsatz von Folterungen, Vergewaltigungen, aussergerichtlichen Hinrichtungen, willkürlichen Inhaftierungen und dem Verschwindenlassen von Personen gekennzeichnet gewesen.
Die Taten seien in einem systematischen Vorgehen von Akteuren erfolgt, welche einerseits direkt dem Präsidenten unterstanden hätten (insbesondere der Nationale Nachrichtendienst [NIA], die Staatsgarde des Präsidenten und die paramilitärische Spezialeinheit «Junglers»), sowie andererseits solchen, die dem Innenminister unterstellt gewesen seien, konkret Angehörigen der Polizeidienste und der Gefängnisbehörden.
Ein ehemaliger Minister von JAMMEH in der Schweiz
Ende November 2016: Die BA wird vom Bundesamt für Polizei fedpol darüber informiert, dass sich der letzte gambische Innenminister der Ära JAMMEH, Ousman SONKO, im Kanton Bern aufhält. Daraufhin werden umgehend Ermittlungen eingeleitet. Am 25. Januar 2017 reicht die Nichtregierungsorganisation (NGO) TRIAL International bei der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern eine Anzeige gegen Ousman SONKO ein, worauf diese ein Strafverfahren eröffnet und den Beschuldigten verhaftet. Dieser befindet sich seither in Untersuchungshaft. Die BA hat das Verfahren vom Kanton im Februar 2017 übernommen. (siehe Medienmitteilung der BA vom 06.02.2017*).
Systematische und ausgedehnte Repression gegen die Zivilbevölkerung
Eine Besonderheit dieses Ermittlungsverfahrens besteht darin, dass sich die strafrechtliche Verantwortung nicht nur aus einer direkten Beteiligung des Beschuldigten ergeben würde, sondern auch aus seiner Funktion als Innenminister und damit als Vorgesetzter der Polizei und der Strafvollzugsbehörden im Sinne von Artikel 264k StGB (Strafbarkeit des Vorgesetzten).
Die umfangreiche Untersuchung, in deren Folge nun Anklage beim BStGer eingereicht wurde, umfasste neben zahlreichen Befragungen des Beschuldigten rund vierzig Einvernahmen von Privatklägern, Auskunftspersonen und Zeugen sowie sechs Reisen der Verfahrensleitung nach Gambia im Rahmen der Rechtshilfe.
Dem Angeklagten wird unter anderem vorgeworfen, im Zusammenhang mit fünf Ereignissen zwischen 2000 und 2016 an Tötungen, Folterungen, Vergewaltigungen und illegalen Inhaftierungen beteiligt gewesen zu sein, diese angeordnet, ermöglicht und/oder nicht verhindert zu haben.
Die BA wird ihre Anträge im Rahmen der Hauptverhandlung vor dem BStGer in Bellinzona stellen. Für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung bis zu einem rechtskräftigen Urteil. Mit Einreichung der Anklage obliegt die Informationshoheit dem BStGer.
Völkerstrafrecht in der Schweiz
Seit 2011 wurden der BA neben dem derzeit vor dem Bundesstrafgericht anhängigen Berufungsverfahren im Zusammenhang mit der Verfolgung eines Mitglieds einer bewaffneten Gruppierung im liberianischen Bürgerkrieg fast 90 Fälle unterbreitet; in den meisten Fällen ergingen Nichteintretens- oder Einstellungsverfügungen. Grund dafür war vor allem, dass die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt waren (z.B. das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts oder die Anwesenheit der mutmasslichen Täter auf Schweizer Territorium zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung).
Derzeit werden rund fünfzehn Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und/oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt, deren Taten sich vor oder nach 2011 ereignet haben sollen.
Die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor und nach 2011 in der Schweiz
Der Bundesrat hat in seiner Botschaft über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs im April 2009 daran erinnert, dass das Rückwirkungsverbot auch auf Straftaten des Völkerstrafrechts anwendbar ist. Die Straftatbestände der Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden am 01.01.2011 in das Schweizer Strafgesetzbuch aufgenommen.
Im September 2021 wandte die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts in einem wichtigen Entscheid (BB.2021.141**) im Rahmen eines Drittstrafverfahrens eine zeitlich begrenzte Konzeption des Rückwirkungsverbots an, welche es ermöglicht, den allgemeinen Grundsatz der Nichtrückwirkung im Sinne von Art. 2 StGB sowie politische Erwägungen, welche für die Unverjährbarkeit von Verbrechen mit historischer Dimension wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen, miteinander in Einklang zu bringen.
In der vorliegenden Medienmitteilung wird zwischen Verbrechen, die vor und nach 2011 begangen wurden, nicht unterschieden. Es wird Aufgabe des Gerichts sein, sich mit dieser Frage zu befassen.
Originalversion des Textes auf Französisch
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